Prof. Dr. Michele Barricelli

Überflieger. Die Debatte um Erzählen und narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht auf ihrem fragwürdigen Höhepunkt.

 

Abstract:

 

Mehr als 30 Jahre nach den ersten systematischen Überlegungen durch Hans-Jürgen Pandel zur – wie er sie lange vor allen Kompetenzmodellen für das Lernen in der Schule nannte – „narrativen Kompetenz“ scheinen alle Argumente für und wider das neue Erzählen im Geschichtsunterricht ausgetauscht. Entweder ausdrücklich oder aber mindestens implizit ist Narrativität damit in allen bundesdeutschen Fachrichtlinien angekommen; diese sichert das Eigene und die Eigenständigkeit des Faches Geschichte und sorgt zugleich für die im Sinne der Allgemeinbildung unentbehrliche Anschlussfähigkeit an verwandte Lernbereiche wie Deutsch/Fremdsprachen, Politik/Soziologie, Religion/Ethik. Die Debatten drehen sich also nicht mehr darum, ob Schülerinnen und Schüler im Geschichtsunterricht den Umgang mit historischen Erzählungen lernen sollen, sondern, eine Ebene darunter, wie sie narrative mit argumentativen und evaluativen Komponenten verbinden, in welchem Verhältnis Konstruktion und Analyse („Dekonstruktion“) jeweils stehen, welche Medien des Erzählens genutzt werden können, inwiefern das Erzählen die Identität von Kollektiven stiftet usw. Ist damit die Theoriearbeit im Überflug geleistet und können wir zur niederen Anwendung schreiten? Längst noch nicht!

Genau betrachtet, wurde nämlich kein einziges drängendes Problem des historischen Lernens durch den Verweis auf Narrativität gelöst. So können wir weder sagen, wie mit den zunehmend ungleichartigen bis kompetitiven Erzählungen in den durch Diversität und Heterogenität geprägten Klassenräumen des 21. Jahrhunderts praktisch umzugehen ist, noch gibt es, jenseits von hochformalen und kaum einklagbaren Ansprüchen wie „Triftigkeit“ und „Quellenbezug“, überhaupt Standards für die Gültigkeit von historischen Narrativen in unserer Erzählgemeinschaft. Oder deutlicher: Kein Schüler und kein Erwachsener lässt sich heute noch von Geschichtswissenschaft oder Fachdidaktik das subjektive, selbstorientierende, dabei stets nach Anerkennung strebende historische Erzählen gemäß völlig eigenen Interessen, Absichten und Haltungen verbieten (sofern nicht ganz äußerliche Strafen wie schlechte Noten bzw. Distinktionsnachteile drohen). Und das ist gut so.

Der Vortrag nimmt die Widersprüchlichkeit des auf seinem Höhepunkt angelangten narrativistischen Paradigmas für das historische Lernen in den Blick und begründet, warum Geschichtsunterricht in freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnungen trotzdem (oder deswegen) nicht mehr gezügelt werden kann.

 

 

 

Literatur:

 

Frank Ankersmit: Meaning, Truth and Reference in Historical Representation. Ithaca NY (Cornell) 2012.

 

Michele Barricelli: Worte zur Zeit. Historische Sprache und narrative Sinnbildung im Geschichtsunterricht. In: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 14 (2015), S. 25-46.

 

Michele Barricelli: Collected memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft. In: Markus Furrer/ Kurt Messmer (Hrsg.): Handbuch Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht. Schwalbach/Ts. 2013, S. 89-118.

 

Michele Barricelli: Narrativität. In: Michele Barricelli/ Martin Lücke (Hrsg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Bd 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 255-280.

 

Jouni-Matti Kuukkanen: Postnarrativist Philosophy of History. Basingstoke/New York 2015.

 

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